Stuttgart 21:
Geißler's
Schlichterspruch
Das Schlitzohr hat zugeschlagen
Wer geglaubt hatte, daß Heiner Geißler zum Komplex "Stuttgart 21" einen Schlichterspruch abgeben würde, der einem Persilschein für eine Seite gleichkommen würde, kennt das oberschwäbische Schlitzohr nicht. Es hat jedenfalls kräftig zugeschlagen. Auch wenn der Schiedsspruch oberflächlich betrachtet nach einem Sieg der Projektunterstützer aussehen mag, dürfte bei genauerem Hinsehen manchem Stuttgart-21-Befürworter das dort gepflegte arrogante Grinsen vergehen. Die im Schiedsspruch zutage getretenen Ungereimtheiten und Auflagen zu Stuttgart 21 sind mehr als eine harte Nuß. Sie geben gründlichen Anlaß für weitere Proteste der Bürger, wenn die Betreiber versuchen, die gemachten Vorgaben durch weitere Tricksereien nicht einzuhalten - insbesondere jene, denen sie bereits im Vorfeld zugestimmt haben. Insbesondere die unter den Punkten 11 und 12 aufgezählten Bedingungen garantieren, daß der Tiefbahnhof noch lange nicht in trockenen Tüchern ist. Manchem Lobbyistenfreund dürfte die Lust am Gschäftle mit der Fläche noch vergehen und man darf gespannt sein, wie man ausgewachsene Bäume mit fast 2 Metern Stammdurchmesser unter 5-6stelligem Kostenaufwand pro Baum erfolgreich verpflanzt. Nicht nur dem Schlitzohr Geißler wird solches jedenfalls noch viel Freude bereiten...
Hierzu der komplette Schlichterspruch Heiner Geißlers:
1. Am Mittwoch, 06.10.2010, wurde
ich im Landtag von Ministerpräsident Mappus als Schlichter für den Streit um den
Tiefbahnhof Stuttgart 21 und um die Neubaustrecke Ulm-Wendlingen vorgeschlagen,
vom Fraktionsvorsitzenden Kretschmann in derselben Sitzung bestätigt, nachdem am
Tag zuvor der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stuttgarter Stadtrat Werner
Wölfle meinen Namen für diese Aufgabe genannt hatte.
Dem schlössen sich alle Landtags-Fraktionen an. Das Aktionsbündnis gegen S 21
stimmte daraufhin am 12. Oktober meiner Nominierung zu. Am 15. Oktober 2010
einigten sich Projektgegner und Projektbefürworter darauf, sich an einen Tisch
zu setzen und mit dem Schlichtungsverfahren zu beginnen. Zuvor war Einigung über
den Inhalt der Friedenspflicht und deren Einhaltung während der
Schlichtungsgespräche erzielt worden. Am 22. Oktober begann die erste
Schlichtungsrunde.
2. Das Verfahren war als Fachschlichtung gedacht, wobei offen blieb, ob diese in
eine Ergebnisschlichtung verbunden mit einem Votum des Schlichters münden
sollte. Es war klar, daß daraus keine rechtliche Bindung entstehen konnte, wohl
aber eine psychologische und politische Wirkung die Folge war. Der Begriff
Schlichtung Stuttgart 21 setzte sich dann auch in der Öffentlichkeit durch.
3. Bund und die Länder Baden-Württemberg und Bayern (wegen Neu-Ulm-21) sich auf
eine Vorfinanzierung geeinigt hatten, genehmigte der Aufsichtsrat der DB am 14.
März 2001 das Projekt. Damit wurde der Weg für die Einreichung der
Planfeststellungsunterlagen geebnet. Am 31. Oktober 2001 wurde das erste
Planfeststellungsverfahren beim Eisenbahnbundesamt eröffnet. In den
darauffolgenden Jahren wurde das Projekt von allen zuständigen parlamentarischen
Gremien mehrheitlich gebilligt und insoweit legalisiert.
Dennoch formierte sich schon frühzeitig Widerstand gegen S 21, der sich vor
allem im Laufe des Jahres 2010 zu massenhaften Demonstrationen mit bis zu über
60.000 Teilnehmern äußerte. Der Spalt ging quer durch die gesamte
Stadtbevölkerung und bewegte zunehmend auch die Bevölkerung Baden-Württembergs.
Auch die Befürworter gingen auf die Straße. Am 30. September 2010 eskalierte der
Protest. Bei einer Demonstration kam es zur Konfrontation der Protestbewegung
mit der Polizei mit der Folge von über 100 Verletzten, darunter zwei
Schwerverletzten.
Diese Entwicklung, mit negativem Echo bis in die USA, hatte die Bevölkerung und
die politisch Verantwortlichen erschüttert. Sie hatte regionale und
überregionale Gründe und ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund einer massiven
Vertrauenskrise der Politik im Allgemeinen und einer speziellen ebenfalls
massiven Kritik an der Art und Weise des Zustandekommens und der Durchführung
des Projekts S 21. In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger waren mit ihm mehr
ökologische, geologische und finanzielle Risiken als wirtschaftlichen Chancen
verbunden.
Wichtiges Ziel der Schlichtung war daher, durch Versachlichung und eine neue
Form unmittelbarer Demokratie wieder ein Stück Glaubwürdigkeit und mehr
Vertrauen für die Demokratie zurückzugewinnen. Die Schlichtung hat mit dem
sachlichen Austausch von Argumenten unter gleichberechtigter Teilnahme von
Bürgern aus der Zivilgesellschaft etwas nachgeholt, was schon vor vier oder fünf
Jahren hätte stattfinden sollen. Die Schlichtung konnte jedoch diesen Fehler nur
teilweise reparieren.
4. Unabhängig vom Ergebnis in der Sache war die Schlichtung, bevor sie heute zu
Ende geht, ein Erfolg, wie die "Stuttgarter Zeitung" " schreibt.
Im Einzelnen:
4.1. Bürgerinitiativen aus der Zivilgesellschaft, Projektgegner wie Befürworter,
Ministerpräsident, Minister, Bahnvorstände, Bürgermeister, Abgeordnete haben
sich an einen Tisch gesetzt und in neun Schlichtungsrunden vom 22. Oktober 2010
bis 30. November die Argumente ausgetauscht. Das wäre noch vor zwei Monaten
unvorstellbar gewesen.
4.2. In der Landtagssitzung vom 6. Oktober 2010 sagte Winfried Kretschmann an
die Adresse der Landesregierung: "Glauben Sie mir, die Hauptquelle des Protestes
ist, daß Sie den Protest gar nicht ernst nehmen und daß Sie denken, die Gegner
hätten noch nicht einmal gute Argumente/' Diese Beschwerde müßte er heute nicht
mehr vorbringen. Die Projektgegner haben bewiesen, daß sie für das von ihnen
ausgeübte Demonstrationsrecht gute Gründe haben.
Dies wird von der anderen Seite anerkannt. Die Debatte wurde auf Augenhöhe
geführt. Auch dies hat es in dieser Form noch nie gegeben. Die Bereitschaft der
Landesregierung, hier mitzumachen, kann auch als "Gegenbeweis" zu der weit
verbreiteten Meinung gelten, "die da oben machen was sie wollen".
4.3. Die Gleichberechtigung wurde auch dadurch sichergestellt, daß das Land
Baden-Württemberg alle Ausgaben der Projektgegner für Gutachten und
Sachverständige übernommen hat. Das Aktionsbündnis wurde dadurch, wie die FAZ
schrieb, zum ebenbürtigen Kontrahenten in der Landespolitik aufgewertet. (Peter
Conradi: "Die Schlichtung hat unser Gewicht in der Öffentlichkeit verändert. Es
ist gelungen, so etwas wie ein faires Gegenüber herzustellen." Werner Wölfle:
"Unsere Akzeptanz ist gestiegen, keiner kann mehr sagen, wir wären nur
Protestler.")
4.4. Voraussetzung für das Gelingen der Schlichtung war die vom
Ministerpräsidenten ausgegebene Parole: Nicht nur alle an den Tisch, sondern
alle Fakten auf den Tisch. Dieser Faktencheck ist weitgehend gelungen -
angesichts der Komplexität des Problems fast ein Wunder. Lediglich das
Zurückhalten von Detailinformationen zur Projektfinanzierung wegen der Gefahr
von Wettbewerbsverzerrungen bei den Ausschreibungen blieb unbefriedigend. Durch
die Einsetzung von drei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wurde dieser Mangel
jedoch in meinen Augen weitgehend behoben.
4.5. Einer der Hauptgründe für das Mißtrauen gegenüber der Politik ist die
wachsende Undurchschaubarkeit der politischen und ökonomischen Vorgänge, wie sie
sich in der zurückliegenden Finanzkrise gezeigt hat. Die totale Öffentlichkeit
und Transparenz des Schlichtungsverfahrens sollte die Gegenposition zu
praktizierter Geheimhaltung und Konservierung von Herrschaftswissen bilden. Die
Schlichtungen wurden daher jeweils von Anfang bis zum Ende live im Fernsehen
durch Phoenix und teilweise SWR und Flügel TV übertragen und ins Internet
gestellt.
Gleichzeitig konnten interessierte Bürger im großen Saal des Stuttgarter
Rathauses das Geschehen auf einer Großbildleinwand verfolgen. Die Schlichtung
war daher auch moderne Aufklärung im besten Sinne von Immanuel Kant, nämlich die
Menschen zu befähigen, sich aus "unverschuldeter Unmündigkeit" zu befreien und
dadurch "jederzeit selbständig denken" zu können. Das Interesse war enorm und
führte bei Phoenix und SWR zu bisher nicht erreichten Einschaltquoten, mit über
einer Million Zuschauern.
Das Interessante in den Augen der Beteiligten und der Zuschauer war, daß die
gesamten Argumente beider Seiten offengelegt und Zusammenhänge dargestellt
wurden (F. Brettschneider). Statt der Vorstellung von Teilaspekten durch mediale
Statements, konnte die Herleitung von Argumenten dargestellt werden, die "Storvlines",
wie Volker Kefer einmal sagte: d. h. die technische Gesamterzählung und der
innere Zusammenhang des Vorhabens - und das vor einem Millionen-Publikum.
Webseiten und der Organisation von Zehntausenden Menschen per Mausklick kann die
Demokratie nicht mehr so funktionieren wie im letzten Jahrhundert. Die Zeit der
Basta-Politik ist vorbei, auch Parlamentsbeschlüsse werden hinterfragt, vor
allem wenn es Jahre dauert, bis sie realisiert werden. Sie müssen jedenfalls in
dieser Zeit immer wieder begründet und erläutert werden.
Die Fristen zwischen Planung und Realisierung von Großprojekten sind viel zu
lang. Die Öffentlichkeit muß zwar heute schon nach § 3 des Baugesetzbuches über
Pläne und Alternativen frühzeitig informiert werden. Diese Bestimmung wird
jedoch nicht eingehalten oder zu eng ausgelegt. Notwendig ist zudem, daß
Alternativen offiziell ermöglicht und geprüft werden. Das Fehlen dieser
Möglichkeit war einer der größten Schwächen im Verfahren von S 21.
Wäre die Ursprungsplanung von Prof. Heimerl, ähnlich der sogenannten Züricher
Lösung, oder andere Pläne wie z. B. K 21 gleichberechtigt zu S 21 in den
Planfeststellungsverfahren zur Debatte gestellt worden, wäre der Tiefbahnhof
möglicherweise auch das Resultat der Prüfungen gewesen, aber andere Konzepte
nicht planerisch in nicht mehr revidierbaren zeitlichen Verzug geraten. Dies
war, um auch dies deutlich zu sagen, nicht der Fehler der jetzigen
Landesregierung; sie hat dieses Defizit geerbt; Ministerpräsident Mappus hat
konsequenterweise eine gesetzliche Reform des Baurechts bereits vorgeschlagen.
5. Wir brauchen nach meiner Auffassung in Deutschland eine Verstärkung der
unmittelbaren Demokratie. Sicher kann das Schweizer Modell nicht 1:1 auf
Deutschland übertragen werden. Aber wir sollten, um Entwicklungen wie bei S 21
in der Zukunft zu verhindern, das
Beteiligungsverfahren der Schweiz übernehmen, zumindest für Großprojekte:
1. Phase: Formulierung des Ziels, z. B. Basistunnel durch den Gotthardt, dann Abstimmung
2. Phase: Entwicklung der Pläne, mögliche Alternativen, dann Abstimmung
3. Phase: Realisierung mit begleitender Begründung und Information
Solange dies im Bund und in den Ländern nicht möglich ist, bietet sich das hier
praktizierte Stuttgarter Modell als Prototyp an (institutionalisierte
Bürgerbeteiligung auf Augenhöhe).
6. Es war von vornherein klar, daß bei der gegebenen Situation heute ein
Kompromiß zwischen Tief- und Kopfbahnhof nicht mehr möglich ist. Der
ursprüngliche Plan von Prof. Heimerl, nämlich Sanierung des Kopfbahnhofs mit Bau
eines viergleisigen Durchgangsbahnhofs plus Anschlußtunnel zur Neubaustrecke und
Abzweig zum Flughafen wäre ein solcher Kompromiß gewesen. Diese sogenannte
Kombi- oder Züriche Parteitagsbeschluß dagegen und für K 21.
Bei dieser Sachlage wäre es für mich das Einfachste gewesen, eine
Volksabstimmung oder eine Bürgerbefragung vorzuschlagen. Eine Bürgerbefragung in
Stuttgart ist heute noch möglich unter der Voraussetzung, daß während des Baus
von Stuttgart 21 eine Beteiligung der Stadt an Mehrkosten gefordert würde. Das
ergibt sich aus dem Beschluß des Gemeinderates vom 29. Juli 2009.
Ein Bürgerentscheid zu der Grundsatzfrage Stuttgart 21 Ja oder Nein ist dagegen
rechtlich unzulässig. Bei einer bloßen Bürgerbefragung hätte das Ergebnis
keinerlei Auswirkungen auf den Fortgang des Projektes. Die Deutsche Bahn ist
nicht verpflichtet, einem solchen Votum zu folgen. Hinzu kommt, daß der Vorstand
der Bahn gesetzlich verpflichtet ist, Schaden vom Unternehmen abzuwenden, der
bei einem Bau-Stopp von S 21 in Milliardenhöhe entstünde.
7. Die Schlichtung ist ein neues Projekt unmittelbarer Demokratie mit großer
Transparenz. Es kommt für mich aber nicht infrage, am Ende alles offen zu
lassen. Ich hatte mir zunächst überlegt, eine Abwägung und Beurteilung der
Argumente zu allen wichtigen Streitpunkten vorzunehmen, also 2ur verkehrlichen
Leistungsfähigkeit, zum Betriebskonzept zu Ökologie, Städteplanung, Geologie und
Finanzierung von S 21 und K 21.
Dies hätte jedoch mit Sicherheit jeden Zeitrahmen gesprengt und zum sofortigen
und aus jeweiliger Sicht durchaus berechtigten Widerspruch und somit zur
Fortsetzung der Schlichtungsdiskussion über die Friedenspflicht hinaus geführt
Ich möchte ein Beispiel geben: Nach dem von den Projektgegnern favorisierten
System des Integralen Taktverkehrs (ITV) nach schweizerischem Vorbild braucht
der ICE von Mannheim über Stuttgart nach Ulm bei K 21 elf Minuten länger als bei
Stuttgart 21.
Ob dies, wie die Bahn meint, für die Reisenden unzumutbar ist (über 10 Minuten
Standzeit im Stuttgarter Bahnhof) oder ein solcher Zeitpuffer pünktliche Züge
und bequemes Umsteigen ermöglicht, wie das Bündnis meint, kann vom Schlichter
nicht entschieden werden. Ich kann jedoch eine grundsätzliche Bewertung der
unterschiedlichen Positionen vornehmen und Schlußfolgerungen für die Zukunft
ziehen.
8. Ich beginne mit den Vorschlägen der Projektgegner: Werner Wölfle, der
Vorsitzende der grünen Stadtratsfraktion, sagte zum Ablauf und Inhalt der
Schlichtung "Wir haben gezeigt, daß wir mit K 21 ein alternatives Projekt zur
Modernisierung des Stuttgarter Bahnknotens haben". Es ist ganz sicher ein
wichtiges Resultat der Schlichtung, daß die Idee eines erneuerten Kopfbahnhofs
mit Bau eines Anschlußtunnels von Obertürkheim nach Denkendorf zur Neubaustrecke
mit Abzweig zum Flughafen trassenmäßig realisierbar und technisch möglich ist.
Gleichzeitig haben die Projektgegner eine Reihe von fundierten Gründen gegen S
21 und die NBS vorgetragen und vor allem auf Risiken, Mängel und Probleme der S
21-Projektion hingewiesen. Dies betrifft zunächst vor allem die knappe
Dimensionierung des Tiefbahnhofs mit nur 8 Gleisen im Hinblick auf die
prognostizierte und gewünschte Zunahme des Personenverkehrs.
Dasselbe gilt für den zweigleisigen Ausbau weiterer Strecken im Bereich des
Flughafens und der sogenannten Wendlinger Kurve und die Beseitigung des
Engpasses zwischen Zuffenhausen und dem Tiefbahnhof. Beachtliche
Verbesserungsvorschläge betreffen die Notwendigkeit von kreuzungsfreien
Einfahrten in den Tiefbahnhof. Ich empfehle der Bahn, aus diesen und anderen
berechtigten Kritikpunkten Konsequenzen zu ziehen.
Die Gegner von Stuttgart 21 haben in den Schlichtungsgesprächen deutlich machen
können, daß es mit dem Kopfbahnhof 21 eine durchaus attraktive Alternative gibt,
es gibt jedoch ganz konkrete Nachteile. Der am schwersten wiegende Nachteil
liegt darin, daß aus heutiger Sicht eine Verwirklichung des Kopfbahnhofs 21
nicht als gesichert angenommen werden kann, da weder ausreichende Planungen und
deshalb auch keine Planfeststellungen, also Baugenehmigungen vorliegen.
Zudem ist die Finanzierungsgrundlage logischerweise dann auch nicht gegeben, in
der Schlichtungsrunde wurden zudem die Kosten für einen Kopfbahnhof 21 sehr
unterschiedlich eingeschätzt.
Für Stuttgart 21 dagegen gibt es eine Baugenehmigung, und dies ist für die
Deutsche Bahn AG gleichbedeutend mit einem Baurecht. Es wäre zwar theoretisch
möglich, den Bau des Tiefbahnhofs politisch zu torpedieren, aber die rechtliche
Situation scheint mir eindeutig: Der Bau von Stuttgart 21 käme nur dann nicht,
wenn die Bahn AG freiwillig darauf verzichten würde. Dazu ist die Bahn nicht
bereit, das war zu erwarten. Herr Dr. Kefer hat für den Fall eines
Projektausstiegs in den vorletzten Schlichtungsrunde am letzten Freitag bereits
eine umfassende gerichtliche Klage angekündigt.
Bei einem Ausstieg aus Stuttgart 21 entstünden den Projektträgern, insbesondere
der Bahn AG, hohe Kosten, die von den S21-Gegnern auf 600 Millionen Euro, von
der Bahn auf gut 2,8 Milliarden Euro beziffert werden. Deshalb haben wir diese
Frage von drei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften einer Plausibilitätsprüfung
unterziehen lassen: Eine der Gesellschaften kommt zu der Auffassung, daß ein
Ausstieg rund 1 Milliarde Euro kosten würde, die beiden anderen gehen sogar von
1,5 Milliarden Euro aus. Das ist viel Geld dafür, daß man am Ende nichts
bekommt.
Die Plausibilität der Kosten von Stuttgart 21 hat zwar Risiken deutlich
aufgezeigt, in der Summe aber keinen wirklich überzeugenden Anhaltspunkt dafür
gebracht das Projekt aus Kostengründen zum jetzigen Zeitpunkt doch noch zu
stoppen. Einen Kompromiß zwischen Stuttgart 21 und einem Kopfbahnhof 21 kann es
nicht geben, die Gründe hierfür habe ich dargelegt. Also kann eine Chance zur
Verkleinerung des vorhandenen Konfliktpotenzials und eine Entschärfung des
Konflikts nur noch darin gesucht und gefunden werden, wichtige und berechtigte
Kritikpunkte der S21-Gegner aufzugreifen, offensichtliche Schwachstellen zu
beseitigen und Stuttgart 21 als Bahnknoten im Interesse der Menschen deutlich
leistungsfähiger, baulich attraktiver, umweltfreundlicher,
behindertenfreundlicher und sicherer zu machen-zu Stuttgart 21 PLUS.
10. Ich kann den Bau des Tiefbahnhofs nur befürworten, wenn entscheidende
Verbesserungen an dem ursprünglichen Projekt vorgenommen werden, also aus
Stuttgart 21 ein Stuttgart 21 PLUS wird. In der Schlichtung ist auch noch einmal
klar geworden, daß der Tiefbahnhof nur dann einen Sinn hat, wenn gleichzeitig
die Neubaustrecke zwischen Ulm-Wendlungen verwirklicht wird. Bis 2016 ist die
Finanzierung durch die Bahn und das Land Baden-Württemberg sichergestellt.
Ab 2016 wird sich der Bund an den Gesamtkosten von 2,9 Milliarden Euro mit 1,8
Milliarden Euro beteiligen. Nach Auskunft des Vorsitzenden des
Bundestagsausschusses für Verkehr Winfried Hermann im Schlichtungsverfahren ist
jedoch die Finanzierung durch den Bund nicht abschließend gesichert. Diese
Aussage basiert allerdings auf einer Prognose für das Jahr 2016 und unterstellt,
daß die dann vorhandene Mehrheit im Deutschen Bundestag aus dem Projekt
aussteigen würde. Es kann natürlich auch gerade umgekehrt sein. Infolgedessen
können solche Annahmen nicht Grundlage des Schlichterspruches sein.
Es steht fest, daß von den sieben Planfeststellungsabschnitten für die
Neubaustrecke von Wendungen vier sich noch im Planfeststellungsverfahren
befinden. Da die Neubaustrecke eine zwingende Voraussetzung für den Tiefbahnhof
bedeutet und die Bahn mit den Bauarbeiten fortfahren will, ist es vordringlich,
daß die Projektträger für die Neubaustrecke so rasch wie möglich für die
rechtliche und finanzielle Absicherung der Neubaustrecke Sorge tragen.
11. Für die Fortführung des Baues von S 21 halte ich aus den genannten Gründen
folgende Verbesserungen für unabdingbar:
11.1. Die durch den Gleisabbau frei werdenden Grundstücke werden der
Grundstücksspekulation entzogen und daher in eine Stiftung überführt, in deren
Stiftungszweck folgende Ziele festgeschrieben werden müssen: - Erhaltung einer
Frischluftschneise für die Stuttgarter Innenstadt. - Die übrigen Flächen müssen
ökologisch, familien- und kinderfreundlich, mehrgenerationengerecht,
barrierefrei und zu erschwinglichen Preisen bebaut werden. - Für notwendig halte
ich eine offene Parkanlage mit großen Schotterflächen
11.2. Die Bäume im Schloßgarten bleiben erhalten. Es dürfen nur diejenigen Bäume
gefällt werden, die ohnehin wegen Krankheiten, Altersschwäche in der nächsten
Zeit absterben würden. Wenn Bäume durch den Neubau existentiell gefährdet sind,
werden sie in eine geeignete Zone verpflanzt. Die Stadt sollte für diese
Entscheidungen ein Mediationsverfahren mit Bürgerbeteiligung vorsehen.
11.3. Die Gäubahn bleibt aus landschaftlichen, ökologischen und verkehrlichen
Gesichtspunkten erhalten und wird leistungsfähig, z.B. über den Bahnhof
Feuerbach, an den Tiefbahnhof angebunden.
11.4. Im Bahnhof selber wird die Verkehrssicherheit entscheidend verbessert. Im
Interesse von Behinderten, Familien mit Kindern, älteren und kranken Menschen
müssen die Durchgänge gemessen an der bisherigen Planfeststellung verbreitert,
die Fluchtwege sind barrierefrei zu machen
11.5. Die bisher vorgesehenen Maßnahmen im Bahnhof und in den Tunnels zum
Brandschutz und zur Entrauchung müssen verbessert werden. Die Vorschläge der
Stuttgarter Feuerwehr werden berücksichtigt.
11.6. Für das Streckennetz sind folgende Verbesserungen vorzusehen: -
Erweiterung des Tiefbahnhofs um ein 9. und 10. Gleis. - Zweigleisige westliche
Anbindung des Flughafen Fernbahnhofs an die Neubaustrecke - Zweigleisige und
kreuzungsfrei angebundene Wendlinger Kurve - Anbindung der bestehenden
Ferngleise von Zuffenhausen an den neuen Tunnel von Bad Canstatt zum
Hauptbahnhof. - Ausrüstung aller Strecken von S 21 bis Wendungen zusätzlich mit
konventioneller Leit- und Sicherungstechnik.
12. Die Deutsche Bahn AG
verpflichtet sich, einen Streßtest für den geplanten Bahnknoten Stuttgart 21
anhand einer Simulation durchzuführen. Sie muß dabei den Nachweis führen, daß
ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter
Betriebsqualität möglich ist. Dabei müssen anerkannte Standards des Bahnverkehrs
für Zugfolgen, Haltezeiten und Fahrzeiten zur Anwendung kommen. Auch für den
Fall einer Sperrung des S-Bahn-Tunnels oder des Fildertunnels muß ein
funktionierendes Notfallkonzept vorgelegt werden. Die Projektträger verpflichten
sich, alle Ergänzungen der Infrastruktur, die sich aus den Ergebnissen der
Simulation als notwendig erweisen, bis zur Inbetriebnahme von S 21 herzustellen.
Welche der von mir vorgeschlagenen Baumaßnahmen zur Verbesserung der Strecken
bis zur Inbetriebnahme von S 21 realisiert werden, hängt von den Ergebnissen der
Simulation ab. Diese von mir vorgetragenen Vorschläge in den Ziffern 11 und 12
werden von beiden Seiten für notwendig gehalten.
13. Aller Voraussicht nach wird der Bau des Bahnhofs S 21 fortgesetzt werden.
Ein Baustopp bis zur Landtagswahl ist sowohl von der Bahn wie von der
Landesregierung abgelehnt worden. Es ist damit zu rechnen, dass der Protest
trotz S 21 PLUS anhalten wird. Es ist nicht auszuschließen, daß es bei
bestimmten Bautätigkeiten zu Konfliktsituationen kommen kann. Nach den positiven
Erfahrungen in dieser Schlichtungsrunde rege ich an, eine situationsbedingte
Schlichtung in ähnlicher Zusammensetzung unter Vorsitz eines Moderators, z. B.
den Bischöfen oder eines Vertreters der Robert-Bosch-Stiftung, vorzusehen.
Die Schlichtung als solche, die Art und Weise der Diskussion, hat in der
Bevölkerung ein überaus positives Echo gefunden. Dies könnte für den kommenden
Wahlkampf ein Hinweis dafür sein, daß die Wahlchancen, je nachdem, wie sich die
Parteien benehmen, umso größer werden, je mehr die Diskussionen um den
Hauptbahnhof Stuttgart auf dem Niveau der jetzt zu Ende gehen Schlichtung
geführt werden. Ich danke den Teilnehmern der Schlichtung und den
Sachverständigen für die auf hohem Niveau geführten sachlichen Debatten.
Sie haben der Demokratie im allgemeinen und der bürgerschaftlichen Verständigung
in dieser schönen Stadt einen großen Dienst erwiesen. Ich danke der Stadt
Stuttgart und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren unermüdlichen
Einsatz, die herzliche Gastfreundschaft und den kaum zu überbietenden perfekten
Service. Der Dank gilt ebenso den Stenographen, der Presse und den
Fernsehanstalten, die diesem Demokratieexperiment zu einer großen Publizität und
zu einem entsprechenden Erfolg verholfen haben. Ich wünsche dem Stuttgarter
Demokratie-Modell eine weite Verbreitung in Deutschland.
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