20. September 2009:
Tag der Heimat
Harald M. Wissmann:
"Schutt der Geschichte gemeinsam beiseite räumen!"
Beim Tag der Heimat im Heilbronner "Haus des Handwerks" trafen sich auch
dieses Jahr Vertriebene aus dem ganzen Unterland zum Gedenken an ihre
Geschichte. Bereits morgens machten Vertreter von CDU und PRO Heilbronn in der
offenen Vorstandssitzung ihre Aufwartung, bei der Festveranstaltung am
Nachmittag gesellten sich SPD-Vertreter hinzu. Neben dem Grußwort für die Stadt
Heilbronn durch Bürgermeister Harry Mergel schilderte Richard
Siemiatkowski-Werner als Gastredner eindrucksvoll die Rolle der Diakonie bei der
Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen und die heutige
Integrationsarbeit insbesondere mit den Spätaussiedlern. Der Vorsitzender des
Bundes der Vertriebenen (BdV) im Kreisverband Heilbronn, Harald M. Wissmann,
brachte in einer nachhaltig wirkenden Rede die Geschichte in Erinnerung:
"Wir befinden uns in einem historischen Gedenkjahr. Es sind 20 Jahre vergangen
seit die innerdeutsche Grenze und die Mauer in Berlin fielen. Die Bundesrepublik
Deutschland ist 60 Jahre alt geworden. Vor 70 Jahren begann der 2. Weltkrieg.
Vor 90 Jahren wurde der Vertrag von Versailles unterzeichnet.
60 Jahre – erfolgreiche Jahre –dieses neuen demokratischen deutschen Staates
Bundesrepublik Deutschland sind untrennbar verknüpft mit dem Gewaltverzicht und
dem Aufbauwillen der deutschen Heimatvertriebenen. Trotz Flucht, Vertreibung,
Entwurzelung, Traumata, trotz der Verzweiflung und auch trotz der Ablehnung, die
ihnen vielerorts – nicht überall – von Seiten der Nichtvertriebenen
entgegenschlug, haben sich die Vertriebenen nicht als Sprengstoff unserer
Gesellschaft und unseres neuen Staates verstanden oder gar missbrauchen lassen.
Stattdessen waren sie bildlich gesprochen die Hefe, des deutschen
Wirtschaftswunders und unserer neuen demokratischen Gesellschaft. Sie
gestalteten das Land von Beginn an auch politisch mit. Paul Löbe, Erich Mende
oder Hans-Christoph Seebohm gehörten mit anderen Vertriebenen bereits dem ersten
Deutschen Bundestag an.
Die demokratischen Parteien Deutschlands unterstützten über viele Jahre hinweg
einmütig die Heimatvertriebenen um die Integration zu beschleunigen und die
wirtschaftliche Not zu lindern. Es war politischer Konsens, das Schicksal der
Heimatvertriebenen als gesamtdeutsches Schicksal anzusehen.
Gegen Ende der 60-er Jahre änderte sich dieses. Die neue Ostpolitik der
sozial-liberalen Bundesregierung löste politische Turbulenzen aus, die sich in
der Unterzeichnung der Ostverträge manifestierten. Die Enttäuschung unter den
Heimatvertriebenen war elementar. Viele empfanden diese Politik als Verrat am
deutschen Volk.
Das Verhältnis der Regierungsparteien gegenüber den Vertriebenenverbänden kann
mit dem Begriff „Eiszeit“ nur unzureichend beschrieben werden. In dieser Zeit
war der Schulterschluss der Vertriebenen mit den Unionsparteien enger, jedoch
ebenfalls nicht spannungsfrei. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes
zu den Ostverträgen unterstützten zudem die Haltung der Vertriebenen als auch
weiter Teile der Unionsparteien.
Das mediale und das intellektuelle Klima in Deutschland stand aber schon lange
gegen die Heimatvertriebenen. Häme und Bösartigkeit gegenüber
landsmannschaftlichen Treffen sowie Mitleidlosigkeit gegenüber den Opfern waren
nicht die Ausnahme. Sie waren die Regel.
Noch schlimmer traf es die Heimatvertriebenen in der sowjetischen
Besatzungszone, später der DDR. Ihr Schicksal war jahrzehntelang ein Tabu. Sie
durften sich weder organisieren noch über ihr Schicksal sprechen. Über
Jahrzehnte bestraft – erst vertrieben, dann zum Schweigen verdammt. Für diese
Menschen war 1990 eine zweifache Befreiung. Politische Freiheit und die Chance
endlich traumatische Erinnerung artikulieren zu dürfen, sich zu organisieren und
gemeinsam zu verarbeiten, was sie erlebt hatten.
Gemeinsam haben wir als klares Zeichen im Jahre 2000 die Stiftung Zentrum gegen
Vertreibungen gegründet. Die Skepsis, ob unsere Stiftung ihre Ziele auch nur
ansatzweise erreichen könnte, war überall deutlich zu spüren. Heute können wir
mit Genugtuung feststellen – wir haben viel erreicht. Deutschlandweit lässt sich
feststellen, dass seit diesem Zeitpunkt ein lebhaftes Interesse am Schicksal der
Heimatvertriebenen erwacht ist. Selbst der Literaturnobelpreisträger Günter
Grass schrieb darüber seine Novelle „Im Krebsgang“. Viele Dokumentationen, aber
auch Spielfilme fesselten Millionen von Fernsehzuschauern an die Bildschirme.
Fast wöchentlich können wir aus den Fernsehprogrammen Wiederholungen ersehen.
Das Klima- zumindest in Deutschland – hat sich geändert, hat sich verändert.
Mittlerweile interessiert sich gerade unsere Jugend auch und insbesondere für
diesen Teil deutscher Geschichte.
Unser gemeinsames Anliegen, eine Dokumentationsstätte für das Schicksal und
Kulturerbe der Deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler in Berlin zu
errichten haben wir gegen viele Widerstände erreicht. Ohne unsere Stiftung hätte
die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien mit Sicherheit keine
Koalitionsvereinbarung geschlossen, in der sie sich verpflichteten, ein
„sichtbares Zeichen zu Flucht und Vertreibung in Berlin“ zu errichten. Es ist
ein längst überfällige Aufgabe Deutschlands, endlich eine Dokumentationsstätte
in der deutschen Hauptstadt zu schaffen. Hier soll das Schicksal der deutschen
Heimatvertriebenen und Aussiedler mit ihrer Siedlungs- und Kulturgeschichte den
nachfolgenden Generationen vermittelt werden. Jede vierte Familie in Deutschland
ist von Schicksal der Flucht und Vertreibung betroffen.
Mit der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ hat die Bundesregierung
ihr Versprechen gehalten. Trotzdem gibt es immer noch Defizite im öffentlichen
Bewusstsein. Aber – das gesellschaftliche Klima hat sich in den letzten Jahren
deutlich geöffnet. Es gibt heute deutlich mehr Verständnis und Interesse für
dieses deutsche Schicksalsthema als noch vor wenigen Jahren. Es geht alle in
Deutschland an, denn es ist ein Teil gesamtdeutscher Identität, unseres
kulturellen Erbes, unserer gemeinsamen Geschichte.
Dem Schicksal der deutschen Heimatvertrieben ging Grauenhaftes voraus. Die
schrecklichen Bilder sind uns allen in Erinnerung. Sie beschämen uns als
Deutsche zutiefst. Hitler war es, der die Büchse der Pandora öffnete. Das wissen
die Flüchtlinge und Vertrieben elementarer als allen anderen. Sie wurden in
Kollektivhaftung genommen. Egal ob Großmutter oder Säugling. Die Tatsache der
nationalsozialistischen Schreckensherrschaft über Europa wird aber immer wieder
als Argument missbraucht, diese Massenvertreibungen zu rechtfertigen. Kaltherzig
wird dabei übersehen, dass Münchner, Kölner oder Bremer nicht vertrieben wurden
– auch wenn sie fanatische Nationalsozialisten waren.
Der historische Kontext ist wichtig. Er beginnt weder 1933 noch 1938 oder 1939.
Peter Glotz, der große Sozialdemokrat, setzt den Beginn seines Buches über das
Schicksal der Sudetendeutschen in die Mitte des 19.Jahrhunderts und begründet:
„Ich beginnen 1848. Man darf die frühnationalistischen Oberlehrer und
Journalisten nicht aus der Verantwortung lassen. ….Wer wirklich gegen
Vertreibungen kämpfen will, muss die ganze Kette der Ursachen beleuchten“.
Recht hat Peter Glotz. Beim Slawenkongress 1848 in Prag war das Wetterleuchten
des Nationalismus und Rassismus in Europa – nicht nur in Deutschland – bereits
unheilvoll sichtbar. Die Auswirkungen der Verträge von Versailles als Folgen des
1. Weltkrieges waren mit ihren willkürlichen, durch nichts zu rechtfertigenden
Grenzziehungen für Millionen von Menschen mit unterschiedlicher
Volkszugehörigkeit gravierend. Sie gerieten in einen Minderheitensituation ohne
ausreichenden Schutz vor Repressalien. Postulierte Minderheitenrechte wurden
unterlaufen. Ein Blick in die Archive des Völkerbundes in Genf in hier
hilfreich.
Die deutschen Heimatvertriebenen haben aus eigener Kraft den Strom traumatischer
Erinnerungen kanalisiert. Mit der Charta der Heimatvertriebenen von Stuttgart im
August 1950, also nur fünf Jahre nach Kriegsende, haben sie deutlich gemacht,
dass Rache und Gewalt für sie kein Weg in die Zukunft ist. Sie haben früh –
früher als viele andere – erkannt, dass dauerhafter Frieden nur in einem
geeinten Europa möglich sein wird. Für ein positives zukunftsorientiertes Europa
dürfen wir aber auch nicht ausblenden, was es an Menschenunwürdigem, an
Menschenverachtendem in unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit gegeben
hat. Die Europäer müssen sich ihrer gemeinsamen Vergangenheit in allen Facetten
gemeinsam stellen. Und in voller Kenntnis des Geschehenen und in
Versöhnungsbereitschaft die europäische Zukunft gestalten. Das fällt niemanden
leicht. Wie sollte es auch. Aber es ist notwendig. Daran führt kein Weg vorbei.
Wie glauben an ein versöhntes Europa. In den die Völker ohne Zwang und Furcht
voreinander leben können. Millionen Heimatvertriebenen und Aussiedler tragen
dazu tagtäglich bei.
Wir brauchen das Miteinander. Wir wollen das Gegeneinander der Völker
überwinden. Dazu ist es unabdingbar notwendig, den Schutt der Geschichte
gemeinsam beiseite zu räumen und aus ihren Trümmern neues zu bauen. Aber es
bleibt dabei – man muss die Geschichte kennen und anerkennen. Und jeder muss
bereit sein auch zu den Schattenseiten seiner Geschichte zu stehen.
Für die Zukunft glaube ich fest daran. Die Menschen in Europa verbindet mehr als
sie trennt. Dafür, für eine Europa in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit lohnt
es sich zu arbeiten. Wir werden dazu auch weiterhin unseren Beitrag leisten."
Mit Liedern und
Theateraufführungen beim anschließenden kulturellen Teil fand der Tag der Heimat
seinen Abschluß.